Retro-Torte in fünf Schichten – ein Grundrezept für die agile „Retrospektive“

Gastbeitrag von Corinna Höffner (Institut für Public Management, FOM Hochschule, Essen)

Die Corona-Krise fordert schnelles und agiles Handeln: Pandemiepläne müssen überarbeitet, Testkapazitäten und Impfstoff bereitgestellt und Corona-Schutzverordnungen umgesetzt werden. Die neuen Aufgaben haben dabei Einfluss auf die Zusammenarbeit, Arbeitsweisen und -strukturen: Mobiles Arbeiten steht auf der Tagesordnung, neue digitale Kommunikationswege werden eingeführt, Führung auf Distanz wird zur Normalität. Doch bevor die neuen Arbeitsweisen in die Normalität übergehen, muss deren Erfolg überprüft werden. Was hat sich (nicht) bewährt?

Doch nicht nur während der Corona-Krise, sondern auch nach bestimmten Arbeits- und Projektphasen ist es notwendig, die Arbeitserfahrungen der Beschäftigten zu reflektieren und eine „Bestandsaufnahme“ zu machen, um anschließend das weitere Vorgehen des Teams und konkrete ToDos zu bestimmen. Aber wie?

Mit Hilfe einer „Retrospektive“ können Sie vor allem (neue) Arbeitsweisen und die damit gemachten Erfahrungen systematisch reflektieren, aber bei Bedarf auch erzielte Arbeitsergebnisse betrachten, und damit Verbesserungspotenziale der Kooperation im Team und bei den Arbeitsprozessen entdecken. Eine Retrospektive ist also eine höchst empfehlenswerte Phase des agilen Arbeitens, bei der aus einer systematischen Rückschau Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Es gibt inzwischen sehr viele methodische Varianten, eine solche Retrospektive zu gestalten. Ich möchte Ihnen in diesem Blogartikel eine Methode vorstellen, die eine Art „Grundrezept“ für Retrospektiven darstellt und mit der man sehr gut starten kann.

Welche Zutaten Sie zum Gelingen der Methode brauchen und wie der Ablauf funktioniert, erfahren Sie in unserem Backrezept zur „Retro-Torte“. Viel Spaß beim Nachmachen!

… und zum Dessert gibt’s zwei kurze Einblicke in Praxis-Erprobungen!

Das Rezept im Detail

Illustration einer Torte mit 5 Schichten: 1. Rahmen schaffen 2. Daten sammeln 3. Erkenntnisse gewinnen 4. Entscheidungen treffen 5. Retrospektive abschließen

Abb. 1: Anleitung zur (regelmäßigen) Reflexion einer vorangegangen Arbeits- oder Projektphase und Ableitung konkreter Maßnahmen [1][2]

Kategorie: agile Methode / Arbeitsweise

Saison: im Anschluss an eine Projekt- oder Arbeitsphase oder zum Abschluss; in oder nach Phasen von Krisen

Rezept für: Personaler*innen, Führungskräfte und Mitarbeitende / Teams

Personen: für eine frei wählbare Anzahl an Personen / Gruppengröße

Schwierigkeitsgrad: mittel (Fortgeschrittene)

Zutaten:

  • ein/e Moderator*in
  • ein Team von Mitarbeitenden oder eine Arbeitsgruppe, die in einer vergangenen Phase aktiv zusammengearbeitet haben
  • idealerweise: Materialien zur Visualisierung; z.B. Metaplanwände /-karten, Whiteboards, Flip-Charts, Klebezettel

Zubereitungszeit: Richtwert für dieses „mehrschichtige“ Grundrezept sind 90 Minuten; abhängig von der Gruppengröße und Dauer der betrachteten Phase

Anleitung: Zum Gelingen der Retrospektive empfehlen wir folgende fünf Schritte zu befolgen:

Vorbereitung: Rahmen schaffen

  1. Schaffen Sie einen Rahmen und eine angenehme Arbeitsatomsphäre, die es dem Team ermöglicht, sich auf das Ziel der gemeinsamen Rückschau zu fokussieren. Dazu zählen Begrüßung und Wertschätzung der Mitarbeitenden für ihre Teilnahme, genauso wie die Formulierung des Zeitrahmens, Ziels und Konzepts der Retrospektive, das Schaffen einer sicheren Umgebung und eine angenehme Arbeitsatomsphäre. Sonst fällt das Ergebnis nachher in sich zusammen!

Durchführung: Daten sammeln, Erkenntnisse gewinnen, Entscheidungen treffen

  1. Halten Sie Ihre Zutaten bereit! … Und machen Sie sich ein gemeinsames Bild davon, was in der vergangenen Phase geschehen ist. Welche Maßnahmen wurden zuletzt vereinbart? Welche Ergebnisse wurden erzielt? Erweitern Sie Ihre Perspektive um die der Teammitglieder. Viele Köch*innen verderben hierbei NICHT den Brei! Schenken Sie auch den positiven und negativen Gefühlen Beachtung. Erkennen Sie Muster, Besonderheiten oder Auffälligkeiten?
  2. Untersuchen Sie nun Bedingungen, Interaktionen und Muster, die zum Erfolg beitragen sowie Störungen, Schwächen, Risiken und unterwartete Ereignisse oder Ergebnisse. Auch das Durchdenken zusätzlicher Möglichkeiten und das Suchen nach Ursachen und Auswirkungen können weiterhelfen. Nach der analytischen Reflektion „verrühren“ Sie anschließend die Erkenntnisse zum effektiveren Arbeiten zu einem Teig zusammen. Sind Sie mit der Menge und Konsistenz des Teigs zufrieden?
  3. Backen Sie kleine Brötchen! Mit dem nächsten Schritt werden die wichtigsten Themen oder Probleme für die nächste Projekt- oder Arbeitsphase ausgewählt und das konkrete weitere Vorgehen geplant. Die Verbesserungspläne wandern in den Arbeitsplan für die nächste Phase, womit die Planung abgeschlossen ist. Jedes Teammitglied erhält eine Aufgabe!
Screenshot einer virtuellen Pinnwand, die für die Retrospektive genutzt wurde - mit drei Spalten: Daten sammeln, Erkenntnisse gewinnen, Entscheidungen treffen

Abb. 2: Vorlage zur Durchführung der Retrospektive („Grundrezept“)

Nachbereitung: Retrospektive abschließen

5. Die Garnierung: Dokumentieren Sie zum Abschluss der Retrospektive das Erlebte und Gelernte und planen Sie die Nachbereitung. Hier folgt die „Retrospektive der Retrospektive“ (s. Abb. 3): Was ist bei unserer Reflexion und Auswertung gut gelaufen und was können wir das nächste Mal besser machen? Es geht jetzt also nicht mehr um die betrachtete Arbeitsphase des letzten Jahres o.ä., sondern um die Arbeit der letzten eineinhalb Stunden.

Canvas / virtuelle Pinnwand für eine "Retrospektive der Retrospektive" - mit vier Feldern: 1. Das lief gut 2. Welche Herausforderungen gabe es? 3. Welche Lichtblicke kommen auf? 4. Das lief nicht so gut

Abb.3: Vorlage für die „Retrospektive der Retrospektive“

Verzehrempfehlung:

  1. Im Zweifelsfall ist es immer besser, weniger Zeit für die Retrospektive aufzuwenden, diese jedoch regelmäßig und in kurzen Abständen durchzuführen.
  2. Führen Sie die Retrospektive in einem ruhigen Raum in ungestörter Atmosphäre durch.
  3. Die visuelle Darstellung von Daten und Ereignissen erleichtert dem Team, Muster zu erkennen und Verbindungen herzustellen (hier eignet sich das Arbeiten mit Pinnwänden oder digitalen Whiteboards, wie z. B. über Mural, Miro oder ConceptBoard; s. Abb. X).
  4. Treffen Sie keine vorschnellen Hypothesen oder Schlussfolgerungen zu Problemursachen oder Lösungen.

Rezept-Variationen:

Durch unterschiedliche Strukturierungen, Vorgehensweisen und Schwerpunktsetzungen können Sie Retrospektiven abwechslungsreich und individuell gestalten. Vor allem Kreativitätstechniken wie Brain Storming und Brain Writing ermöglichen neue Perspektiven und unterstützen vor allem die Phase des Daten Sammelns.

Variieren Sie auch die „Schichten“ und die Zeit. Gerade wenn Sie Retrospektiven zur Gewohnheit machen wollen, gilt: lieber kürzer und kurzgetakteter, damit Sie schneller nachsteuern können. Nach einem einzelnen Arbeitstreffen des Teams genügen mitunter schon 5 – 10 Minuten für eine Mini-Retrospektive anhand einer prägnanten Impulsfrage oder zu einem speziellen Aspekt. Eine Retrospektive am Ende eines Projektes braucht natürlich viel mehr Zeit und die vollumfänglichen Schichten.

Der „Retromat“ zeigt Ihnen zahlreiche Techniken für die verschiedenen Schichten der Retro-Torte. „Back-Profis“ können sich auch zufällig für jede der fünf Phasen Techniken zusammenstellen lassen. Drehen Sie am Glücksrad und klicken Sie sich durch!

Blick in die Praxis: Wie öffentliche Verwaltungen retrospektiv aus der Krise gelernt haben

Die Reflexion bisheriger Arbeitserfahrungen der Beschäftigten, um das weitere Vorgehen innerhalb des Teams und der einzelnen Mitarbeitenden zu bestimmen, ist eine gängige Praxis in der Verwaltung und erfolgt häufig intuitiv. Beim Kreis Soest (Praxispartner im Forschungsprojekt AgilKom) erfolgte diese „intuitive Retrospektive“ innerhalb der Pandemiegruppe, um die zum Teil ad hoc getroffenen Entscheidungen zu überprüfen und zu reflektieren. Die fünf Phasen und entsprechenden Aktivitäten wurden dabei jedoch nicht vollumfänglich und trennscharf durchgeführt.

Vor allem in der „Corona-Krise“ war die Selbstreflexion des Teams eine hilfreiche und notwendige Methode, um zum Teil kurzfristig getroffenen Entscheidungen zu beleuchten. Elmar Diemel, Leiter der Personalentwicklung in der Kreisverwaltung Soest, beschreibt die Pandemiegruppe als einen Thinktank für Lösungen. Gestartet in einer kleineren Konstellation, wurde die Anzahl der interdisziplinären Mitglieder der hierarchieübergreifenden Pandemie-Arbeitsgruppe sukzessive auf ca. 15 Personen erhöht. In regelmäßigen Abständen oder nach bestimmten Phasen der Corona-Krise traf sich die Arbeitsgruppe und reflektierte unter Berücksichtigung der vielen komplexen Herausforderungen und häufigen Neueinschätzungen oder Wendungen die Entscheidungen und Maßnahmen der AG und des Verwaltungsvorstands. Wichtige Erkenntnisse der Soester-Pandemiegruppe zur Durchführung solcher Reflexionen / Retrospektiven sind u. a. :

  • Alle Mitglieder sind gleichberechtigt. Die moderierende Person leitet die Gruppe und fungiert z. B. gegenüber dem Verwaltungsvorstand als Sprecher*in der Gruppe.
  • Bei einer einstündigen Retrospektive reicht der mündliche Bericht der Teilnehmenden, ansonsten sollten visuelle Aufzeichnungen mit Pinnwänden oder digitalen Whiteboards genutzt werden.
  • Es können nur solche Verbesserungsmaßnahmen beschlossen werden, die auch im Einflussbereich des Teams liegen.
  • Zu viele Verbesserungsvorschläge und Initiativen erschweren die Umsetzung – es ist besser einen klaren Fokus zu setzen.

Auch Kolleg*innen der Stadt Essen, ebenfalls Praxispartnerin im Projekt AgilKom, konnten in 90-minütigen virtuellen Workshops die Methode Retrospektive kennenlernen und die Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis diskutieren. Dabei reflektierten die je 15-20 Teilnehmenden des Workshops retrospektiv das vergangene, von Corona geprägte Jahr und die damit verbundenen Entscheidungen zur Arbeitsweise innerhalb ihres Teams: Welche Maßnahmen wurden getroffen? Wie ist es mir damit ergangen? Was haben wir als Team daraus gelernt? Was wollen wir anders, besser oder als Nächstes machen? In Gruppen-Arbeitsphasen, sog. „Break-Out-Sessions“, wurden mit Hilfe eines digitalen Whiteboards (s. Abb. 4) die Daten zusammengetragen, gemeinsam Erkenntnisse gewonnen und Ideen für das weitere Vorgehen gesammelt, woraufhin anschließend im gesamten Team konkrete Entscheidungen abgeleitet wurden.

Screenshot einer virtuellen Pinnwand von oben im Einsatz (mit vielen Zetteln, die aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht wurden)

Abb. 4: Teamreflexion zur Arbeitsweise im vergangenen Corona-Jahr – Visualisierung der Arbeitsergebnisse auf einem digitalen Whiteboard (Anwendungsbeispiel aus dem Methoden-Workshop „Retrospektive“)
– Details aus Datenschutzgründen unleserlich gemacht –

Die Einschätzung der Teilnehmenden zur Methode zeigt, dass die Retrospektive mit ihren fünf Phasen für sie selbst praktikabel ist, auch wenn sie nicht zwangsläufig zur aktuellen Verwaltungskultur passt (s. Abb. 5). In Abhängigkeit vom jeweiligen Projekt und von den zu bearbeitenden Aufgaben ist für die Teilnehmenden die Anwendung der Methode im Team denkbar.

Umfrage zur Methode - Punkteabfrage in einer Matrix: x-Achse: Die Methode ist für mich praktikabel (stimme überhaupt nicht zu - stimme voll zu) y-Achse: Die Methode passt zur Verwaltungskultur (stimme überhaupt nicht zu - stimme voll zu) Die Ergebnisse zeigen zu beiden Dimensionen eher Zustimmung.

Abb. 5: Einschätzung der Anwendungsmöglichkeiten dieser Retrospektive-Methode

Weitere Informationen und Praxistipps finden Sie in der kurzen Handlungsempfehlung „Krisen bewältigen. Entscheidungen reflektieren. Arbeitswelt gestalten. Anwendung der Methode Retrospektive in der (öffentlichen) Verwaltung“, die gemeinsam mit dem Kreis Soest innerhalb des Forschungsprojekts AgilKom entstanden ist, auf der Website des ifpm Institut für Public Management.

Das Projekt AgilKom wird im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert und von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) fachlich begleitet.

 

Anmerkungen:
[1] s. hierzu: Derby, Esther & Larsen, Diana (2018): Agile Retrospektiven – Übungen und Praktiken, die die Motivation und Produktion von Teams deutlich steigern, 1. Auflage. Vahlen, München.

[2] s. hierzu: Wagner, Ludger (2018): Retrospektiven – wir entwickeln uns weiter. In: Martin Bartonitz, Veronika Lévesque, Thomas Michl, Wolf Steinbrecher, Cornelia Vonhof, & Ludger Wagner (Hrsg.): Agile Verwaltung – Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann, 1. Auflage. Springer Gabler, Berlin, Heidelberg, S. 119-135.

 

Corinna Höffner
(Foto © FOM/Tim Stender)

Unsere Gastautorin: Corinna Höffner studierte Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Während ihrer Studienzeit war sie insgesamt vier Jahre im Bereich Personalentwicklung des Wupperverbandes beschäftigt. Seit März 2019 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ifpm Institut für Public Management im Projekt „Experimentierräume in der agilen Verwaltung (AgilKom)“ tätig und verknüpft hierbei Forschung und Praxis miteinander.

2 Kommentare

  1. Corinna Weber sagt:

    Liebe Frau Höffner,

    vielen Dank für den wertvollen Beitrag über Retrospektiven! Sie sind das Herzstück agilen Arbeitens und insbesondere für das Teamklima von großer Bedeutung.

  2. Monika Abendschein sagt:

    Danke für diesen tollen Beitrag, der für mich genau zur richtigen Zeit kommt!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert