Wenn Führungskräfte aus Kommunalverwaltungen in unseren Seminaren und Workshops agile Methoden wie Kanban, Scrum & Co. kennenlernen, sind sie meist sehr „angefixt“: „Das würde unserer Verwaltung gut tun!“ Und im nächsten Moment meldet sich der Zweifel: „Aber dafür braucht es auch Mitarbeitende, die Verantwortung übernehmen wollen. Viele wollen aber lieber klare Vorgaben von mir als Führungskraft und würden sich von mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation überfordert fühlen“. Dann gebe ich zunächst gern augenzwinkernd zu bedenken, dass ihre Leute womöglich das Gleiche über sie sagen: „Wir würden ja gern, aber das würden unsere Führungskräfte nicht zulassen …“ ?
Zu sehen ist aber auch: Die öffentliche Verwaltung ist ein Umfeld, in dem Gesetze und Vorgaben einzuhalten sind, in dem das Sicherheitsbedürfnis stark ausgeprägt ist und das nach wie vor durch Hierarchiedenken geprägt ist. Hier ist es für Führungskräfte nicht einfach, Kontrolle abzugeben, denn sie selbst müssen schließlich für alles in ihrem Bereich „den Kopf hinhalten“. Und für Mitarbeitende ist es nicht einfach, auf die Absicherung „von oben“ zu verzichten. Selbstorganisation lässt sich nicht einfach „anknipsen“ oder „einfordern“.
Die Frage ist also, wie Sie als Führungskraft für Ihr Team und Ihre Aufgaben das jeweils richtige Maß im Spektrum zwischen Anweisung und Selbstorganisation finden können. Und wie Sie in kleinen Schritten und sehr schonungsvoll erproben können, wo mehr Übertragung von Verantwortung für beide Seiten gewinnbringend ist.
In diesem Zusammenhang finde ich eine Methode sehr hilfreich, die darauf setzt, den Grad an Selbstorganisation zu visualisieren und im Team besprechbar zu machen: Das Delegation Board.
Diese Methode von Jurgen Appelo[1] basiert auf der gar nicht so neuen Idee, Delegation nicht als einfache „entweder-oder“-Entscheidung zu verstehen („Entweder ich mache es als Führungskraft selbst oder ich gebe es an meine Leute ab“) und stattdessen verschiedene Stufen der Delegation zu unterscheiden:[2]
Mit Hilfe eines Delegation Boards lässt sich die jeweilige Stufe der Delegation für verschiedene Aufgaben kommunizieren und transparent machen. Dazu können Sie eine Fläche (Flipchart, Whiteboard, Schranktür, Wandfläche, …) in Spalten für die Delegationsstufen unterteilen. In den Zeilen tragen Sie die Aufgabenbereiche oder Situationen ein, zu denen Sie die jeweiligen Delegationsstufe klären möchten. Auf einem Klebezettel können Sie nun notieren, an wen Sie eine Aufgabe übertragen: eine einzelne Person, eine Rolle oder auch das ganze Team. Den Zettel kleben Sie dann zu der passenden Stufe der Delegation, um zu markieren, wie viel Verantwortung Sie zu dieser Aufgabe übertragen.
Aber was ist daran nun „agil“? So etwas Ähnliches haben wir schließlich in Verwaltungen schon mehrfach gesehen. Das hieß dann etwas weniger hip „Zuständigkeitsdiagramm“ oder „Delegationsmatrix“…
Die Delegation Board Methode hat aber einen anderen Ansatz: Delegation ist nichts, was man als Führungskraft festlegt und dann als Handzettel an seine Leute verteilt. Und was dann einigermaßen statisch bleibt. Delegation wird hier nicht als reine Führungsaufgabe betrachtet, sondern als gemeinsame Aufgabe zwischen einer Führungskraft, die Verantwortung überträgt, und Mitarbeitenden, die Verantwortung übernehmen.
Daraus folgen zwei Dinge:
- Die Stufen der Delegation sollten im Team besprochen, vielleicht sogar gemeinsam festgelegt werden. Genau dafür ist das Board hilfreich: Es macht die Stufen der Delegation für alle einsehbar und im Team besprechbar.
- Delegation ist ein gemeinsamer Schritt-für-Schritt-Lernprozess – die Klebezettel können und sollten sich auf dem Board bewegen, bis die richtige Stufe der Delegation gefunden ist, die einerseits die Führungskraft entlastet und das Team stärkt, andererseits der Aufgabe gerecht wird und niemanden überfordert.
Wenn Sie nun als Führungskraft Selbstorganisation in Ihrem Team oder bei einzelnen Mitarbeitenden fördern möchten, können Sie sich gemeinsam vor das Delegation Board stellen und überlegen, an welchen Stellen und auf welche Weise ein Klebezettel eine Stufe weiter nach rechts wandern könnte.
Hier mal ein (fiktives) Beispiel:
Das Thema „Urlaubsplanung“ liegt Karin Berger, Leiterin eines Bürgerbüros, schon länger im Magen. Eigentlich will und soll das Team die Urlaubsplanung untereinander erstellen. Aber uneigentlich kommt sie als Leitung regelmäßig ins Spiel, sobald bei der Planung Konflikte auftauchen – und das passiert gar nicht so selten. Sie hatte sich dann immer die Gründe derjenigen angehört, die sich nicht einigen konnten, und dann entschieden, wer den Vorrang bekommt (Delegationsstufe „Befragen“). Das hatte aber immer wieder zu Unmut geführt, so dass sie dazu übergegangen war, die Beteiligten an einen Tisch zu holen und zu versuchen, mit ihnen gemeinsam eine Lösung zu finden („Einigen“). Das waren zum Teil nervenaufreibende Diskussionen und am Ende schauten oft große Augen in ihre Richtung, und sie musste dann doch die Entscheidung treffen. Diese Rolle als „Schiedsrichterin“ kostet Frau Berger viel Zeit und Energie – die sie eigentlich für andere „Baustellen“ braucht.
Das Delegation-Board brachte Frau Berger dazu, einen neuen Anlauf zu nehmen – mit dem Team gemeinsam. Sie schlug vor, eine Stufe weiter rechts zu erproben („Beraten“): „Bei Bedarf unterstütze ich euch moderierend und mit meiner Einschätzung, aber ich möchte, dass ihr am Ende die Entscheidung miteinander trefft – ich will nicht mehr Schiedsrichterin sein.“ Vereinbart wurde ein Testlauf für die Urlaubsplanung des kommenden Jahres. Die Skepsis bei den Mitarbeitenden beruhigte sich, als Frau Berger noch einmal deutlich zusicherte, sich nicht ganz aus der Konfliktlösung herauszuziehen, sondern sich wirklich Zeit für ein notwendiges Gespräch zu nehmen – nur entscheiden wolle sie eben nicht mehr. Sie selbst ist auch ziemlich gespannt, wie es laufen wird. Aber sie hat auch die Hoffnung, dass das Team in punkto Urlaubsplanung irgendwann auch ganz ohne sie auskommt („Erkundigen“ oder sogar „Delegieren“).
Wenn Sie die Delegationsstufe für eine Aufgabe verändern, geht es zunächst um‘s gemeinsame Ausprobieren, also darum, Erfahrungen mit der neuen Stufe der Delegation zu sammeln und anschließend auszuwerten: Hat sich das bewährt? Können wir uns vielleicht sogar vorstellen, eine weitere Stufe nach rechts zu wandern? Oder sollte der Zettel doch lieber wieder eine Stufe nach links wandern?
Es geht also ausdrücklich nicht darum, dass nach und nach alle Zettel ganz nach rechts wandern sollten. Das mag für ein jung-dynamisches Start-up-Unternehmen ein erstrebenswertes Ziel sein – es würde aber vermutlich weder für Ihr Team noch für die Verwaltung als Organisation passen. Worum es aber schon geht: sich gegenseitig etwas zuzutrauen und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern.
Aus Sicht der Führungskraft: Mein Team und unsere Aufgaben können in guten Händen sein, obwohl und gerade weil ich als Führungskraft nicht alles im Griff habe. Und aus Sicht der Mitarbeitenden: Meine Arbeit kann mir Spaß machen, auch wenn oder gerade weil ich mehr Verantwortung übernehme.
Und wenn Sie mehr wollen:
Dann können Sie mit Ihrem Team „Delegation Poker“[3] spielen. Jede*r bekommt dazu einen Satz von sieben Karten, die mit den Delegationsstufen beschriftet sind. Nun können Sie zu den verschiedenen Aufgaben / Situationen auf dem Delegation Board die Frage stellen: „Welche Delegationsstufe fändet ihr hier sinnvoll?“. Jedes Teammitglied zieht dann verdeckt die Karte mit der aus der eigenen Sicht passenden Stufe, und auf ein Kommando decken alle ihre Karte auf. Wenn die Werte stark auseinandergehen, begründen die Teammitglieder mit dem höchsten und niedrigsten Wert ihre Wahl. Anschließend können Sie erneut abfragen und – sofern immer noch kein Konsens herrscht – versuchen, eine Einigung zu erzielen. Und klar, am Ende haben Sie als Führungskraft das letzte Wort.
Ein Kartenset zum Ausdrucken und Ausschneiden finden Sie hier:
Und hier ein Beispiel für die Anwendung der Methode in einem Workshop:
[1] Jurgen Appelo: Managing for Happiness: Übungen, Werkzeuge und Praktiken, um jedes Team zu motivieren. Vahlen, 2018. Mehr Infos gibt’s auch auf der Management 3.0-Website: https://management30.com/practice/delegation-poker/
[2] Delegationsstufen findet man zum Beispiel auch im Ansatz des situativen Führens nach Hersey und Blanchard (Paul Hersey & Ken Blanchard: Management of Organizational Behavior. 4. Auflage. New York, 1982).
[3] Die Methode ist inspiriert vom „Planning Poker“, einer Methode aus dem agilen Projektmanagement, mit dem Aufwände im Team geschätzt werden können.
Schade, dass dieser Artikel nur davon berichtet Verantwortung zu delegieren… nicht aber über die Legitimation, die Berechtigungen! die genauso übergeben/übernommen werden müssen, um diese Verantwortung erfüllen zu können. Ein klassischer Fallstrick in Verwaltungen und Konzernen… so wird das nix mit der Agilität. Zur Selbstorganisation gehören neben den Pflichten auch die passenden Rechte!
Danke für die hilfreiche Differenzierung, die auf einen (von vielen) Fallstricken der Delegation hinweist. Für viele Entscheidungsbereiche reicht es eben nicht aus, die Befugnisse zwischen Führungskraft und Team zu klären, sondern es braucht im nächsten Schritt auch die Legitimation und Kommunikation ins Haus hinein bzw. in Richtung der an der Aufgabe beteiligten oder von ihr betroffenen Organisationsbereiche. Und eine konsequente Rückendeckung, wenn man dort an Grenzen stößt. Hier ist Führung gefragt und das ist aus meiner Sicht einer der Gründe, warum Führung in der Selbstorganisation anders, aber längst nicht überflüssig wird.
Das Thema ist sehr spannend! Gibt es Rebell*innen nur in Kommunalverwaltungen? Die Bundesverwaltung könnte da auch noch mehr mitmachen.
Stimmt! Verwaltungsrebell*innen gibt es mit Sicherheit nicht nur in Kommunalverwaltungen. Dort liegt nur unser Erfahrungsraum, wo wir derzeit einiges „in Bewegung“ erleben. In Mittelbehörden (Bezirksregierungen) und Landesbehörden haben wir häufig noch recht starr hierarchisch geprägte und damit schwerfälligere Systeme erlebt – aber auch da tut sich etwas, zum Beispiel in der Bez.-Regierung Arnsberg (@GovLab_BRA).
Mit Bundesbehörden haben wir selbst keine Erfahrung – aber das „könnte da auch noch mehr mitmachen“ klingt ja nach einem deutlichen Schubser! Vielleicht gibt’s andere Blog-Leser*innen, die konkrete Erfahrungen zum agilen Arbeiten aus Bundesbehörden beisteuern können? Nur los!