Ein „bürokratisches und schlechterdings unbegreifliches Ungetüm“ – so bezeichnete das Karlsruher Sozialgericht kürzlich den Rentenbescheid, der im Mittelpunkt einer Klage stand[1]. Ein Rentner hatte einen Rechenfehler am Ende des 32-seitigen Schreibens übersehen und sollte nun nachzahlen. Das Gericht entschied: Die Lektüre sei nicht zumutbar. Und merkt zu dem darin auftauchenden Begriff des „Versorgungsausgleichs“ an: „Selbst doppelt staatsexaminierte Volljuristen beherrschen dieses hochkomplexe Rechtsinstitut regelmäßig allenfalls in Grundzügen“.
„Viel Text = Rechtssicherheit? Hier ein tolles Beispiel für das genaue Gegenteil“, so kommentierte Daniela Hensel diesen Fall auf Twitter. Sie ist Professorin für Kommunikationsdesign an der HTW Berlin und beschäftigt sich als Service Designerin unter anderem mit dem Thema Behördensprache. Wir haben uns mit ihr (virtuell) getroffen und über Sprache gesprochen. Darüber, wie Visualisierungsprofis auf Texte schauen, über einfache Tipps für eine nutzerfreundliche Sprache und über einen Trimm-dich-Pfad für verständlichere Formulare.
Beitragsbild: HTW Berlin, Website zum Forschungsprojekt „DISK“ (Design institutionalisiert Service- und Kundenorientierung)
Was hat Design mit Sprache zu tun?
Uns hat neugierig gemacht: Wie kommt eine Kommunikationsdesignerin dazu, sich für Verwaltung zu interessieren? Daniela Hensel: „Durch den Ruf an die Hochschule war ich plötzlich selbst Teil eines Verwaltungsapparates. Ich wurde verwaltet und musste verwalten. Es war für mich sehr interessant, aus diesen beiden Perspektiven auf das Thema draufzuschauen und daran zu arbeiten“. Und dann war da noch der Impuls von Johanna Götz, die sinngemäß fragte: „Warum beschäftigt ihr wir Designer:innen euch nicht endlich auch mal mit dem Thema Verwaltung?“. Dies mündete letztlich in einem Forschungsprojekt zur bürgerzentrierten Verwaltung, das vom IFAF-Institut zwei Jahre gefördert wurde.
Und das Thema Sprache? Eigentlich ist das Kommunikationsdesign doch sehr auf’s Visuelle getrimmt. „Damit kommt man in Verwaltungen schnell an Grenzen. Dort hat das Wort ein großes Gewicht. Wenn ich etwa Formulare gestalte, kann ich das nicht, ohne über das Thema Sprache nachzudenken“. Dabei geht es nicht nur um Texte, sondern auch um die visuelle Sprache – und um die Kombination aus beidem. Etwa, wenn es um die Struktur eines Formulars oder Schreibens geht. Die ist bei behördlichen Dokumenten meist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Daniela Hensel: „Das klassische Beispiel ist das Finanzamtsschreiben, bei dem ich erst nach fünf Mal draufschauen und einer gewissen Schockstarre herausfinde: Ach, ich habe hier ein zeitliches Limit. Oder: Ach, ich kriege eine Rückzahlung!“
Die Kachel-Abbildungen in diesem Beitrag stammen übrigens aus dem Instagram-Kanal „Von Amt bis Z“, den und ihre Kolleginnen in der Service Design Unit „why does robin“ betreiben. Dort sammeln sie Tipps, Fundstücke und Zitate rund um das Thema Behördensprache.
Aber das muss doch rechtssicher sein!
Der Klassiker, der einem schnell begegnet, wenn man anfängt, in Verwaltungen über verständliche Sprache zu sprechen: „Ich würde ja gern. Aber daran kann ich leider nichts ändern, denn das muss alles rechtssicher formuliert sein“. Aus Sicht von Daniela Hensel bekommt dieses Argument der Rechtssicherheit zu viel Beachtung.
In ihrem Forschungsprojekt mit dem Zahnmedizinischen Dienst Neukölln hat sie eine andere Erfahrung gemacht: „Die Behörde hatte große Probleme mit den Rückläufen des Formulars, bei dem die Eltern einer Fluoridbehandlung zustimmen sollen. Das Formular haben wir von sieben auf gut drei Seiten gekürzt. Vier Seiten an Informationen sind weggefallen! Das wurde natürlich auch juristisch geprüft, und hat ganz wunderbar funktioniert“.
Gleichzeitig war das auch ein gutes Beispiel für die vielen historisch gewachsenen Formulare, mit denen Bürger:innen und auch die Verwaltungsmitarbeitenden selbst konfrontiert sind: „Die Leitung der Behörde war selbst erstaunt über die Inhalte, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Amtsleitung zu Amtsleitung übernommen und immer wieder ergänzt wurden. Immer in dem Bestreben, Rechtslücken zu schließen, in die sich jemand einklagen könnte“, so Daniela Hensel. „Dabei hat man immer das Horrorszenario im Nacken: ‚Wenn es am Ende eine Rechtsstreitigkeit gibt, weil ich in einem meiner Schreiben eine rechtliche Lücke hinterlassen habe, dann kriege ich hier eine Menge Ärger‘.“ Das Problem: Je schärfer die Sprache aus juristischer Sicht wird, desto unschärfer wird sie häufig für die Nutzer:innen. Und wie das einleitende Beispiel zeigt, kann das sogar die Rechtssicherheit aushebeln.
Die Sorge, dass Verständlichkeit auf Kosten der Rechtssicherheit geht – aus Sicht von Daniela Hensel sollte man diese ernst nehmen und die Mitarbeiter:innen damit auch nicht allein lassen. Aber dieser „Geist, der durch die Amtsstuben schwebt“ kann aus ihrer Sicht überwunden werden. Dieser Beitrag liefert einige Ansatzpunkte dafür.
Einige Tipps für verständlichere Behördensprache
Wie kann ich anfangen, wenn ich als Verwaltungsmitarbeiter:in meine Formulare und Schreiben nutzerfreundlicher und zugleich juristisch eindeutig gestalten möchte, aber weder ausgebildete Service Designerin noch Juristin bin? Daniela Hensel liefert hier einige Tipps:
- Die Nutzersicht einholen. Das Schreiben oder Formular mit jemandem durchgehen, der in der Thematik nicht drinsteckt. Was hier zusätzlich hilfreich ist: Den Text einmal laut vorlesen lassen und sich so in die Rolle des Lesenden hineinversetzen. Dieser Perspektivwechsel liefert oft hilfreiche Erkenntnisse.
- Einfache Umformulierungen. Schachtelsätze suchen und in kürzere Sätze unterteilen, Fremdwörter durch bekannte Wörter ersetzen, Abkürzungen vermeiden, aktiv statt passiv formulieren. Hier werden der Inhalt und der rechtliche Bereich meist gar nicht berührt. Trotzdem kann man eine Wirkung erzielen. Das zeigt etwa auch eine Studie des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, bei der Schreiben der Steuerverwaltung umformuliert und Nutzer:innen dazu befragt wurden.
- Inhalte gliedern und eine klare Struktur nutzen. Daniela Hensel: „Es ist hilfreich, wenn ich bei einem Amtsschreiben am besten auf den ersten Blick eine Struktur erkenne, die sagt: Darum geht es hier. Zum Beispiel: ‚Du hast nicht mehr viel Zeit‘. Oder: ‚Hallo, freundlicher Aufruf!‘ Oder: ‚Kleine Erinnerung‘. Oder: ‚Du bekommst eine Rückzahlung!‘ Wenn ich die Struktur schnell erfasse, öffne ich mich auch eher für den Inhalt“. Dabei helfen: Überschriften als Navigationshilfe, Unterteilung in Abschnitte, Informationen in Stichpunkte gliedern, Inhalt durch Gestaltung hervorheben.
- Rechtliche Hinweise von den inhaltlichen Botschaften trennen. „Es geht nicht darum, rechtliche Hinweise unter den Tisch fallen zu lassen“, so Daniela Hensel. „Aber es hilft auch nicht, in einen Bandwurmsatz auch noch drei Paragraphen einzupflanzen, mit denen die Leser:innen gar nichts anfangen können. Stattdessen die Botschaft: ‚Wenn es dich interessiert: Auf dieser rechtlichen Grundlage handeln wir, und dort in diesem separaten Kasten gibt’s weitere Infos dazu‘“.
- Piktogramme nutzen, um komplexe Sachverhalte zu veranschaulichen. Ein Bild sagt oft mehr als viele Worte. Der Einsatz von Icons und einfachen Grafiken kann eine schnelle Orientierung geben und helfen, Inhalte auf einfache Weise zu erklären.
- Eine freundliche Ansprache nutzen. Ein formaler „Anweisungsstil“ kann in vielen Fällen durch eine persönliche Ansprache ersetzt werden. Hier ein Beispiel aus den „Leitsätzen für eine bürgerfreundliche Verwaltungssprache“ der Stadt Wiesbaden. Statt so: „Zu dem Termin sind der Personalausweis sowie der ausgefüllte Antrag mitzubringen“, lieber so: „Bitte bringen Sie zu Ihrem Termin Ihren Personalausweis und den ausgefüllten Antrag mit“. Daniela Hensel bringt hier einen interessanten Gedanken ein: „Wer weiß, vielleicht reduzieren sich dadurch ja sogar die Fälle rechtlicher Auseinandersetzung? Wenn die Leute nicht so auf Krawall gebürstet sind, weil sie ein Anschreiben haben, das grundsätzlich zugewandt ist und vielleicht sogar Spuren von Empathie enthält.“
Das umgestaltete Formular des Zahnärztlichen Dienstes Neukölln liefert ein gutes Beispiel für die Umsetzung all dieser Tipps:
Vorher:
Nachher:
Ein aktuelles Beispiel für eine „Formular-Entschlackungskur“ im großen Stil liefert übrigens eine Kfz-Behörde in den USA (gefunden bei Twitter via Ole Beyer): Das Michigan Department of State verarbeitet jährlich 10 Mio. Erneuerungen von Führerscheinen, Kfz-Registrierungen etc. Die Bürger:innen bekommen dazu jeweils per Post eine Info.
Diese Prozesse wurden im Rahmen einer „strukturellen Investition“ gründlich durchgebürstet. Unter anderem wurden 150 Std. Interviews mit Nutzer:innen geführt. Die Ergebnisse (nachzulesen hier):
- Die Schreiben enthalten 88% weniger Inhalt (durch kompaktere Struktur und Sprache).
- Statt 16 Seiten Infoflut gibt’s nur noch 1 Seite mit einer klaren einfachen Anleitung, was zu tun ist.
- Das führte neben einer höheren Kundenzufriedenheit auch zu reduzierten Durchlauf- und Wartezeiten und einer zunehmenden Nutzung der Online-Dienste.
Die verständliche Behörde
Wenn Veränderungen doch gar nicht so schwer sind, warum bleiben dann aber die Schreiben und Formulare so wie sie sind? Und das obwohl das Thema Behördensprache doch kein neues ist und es zahlreiche Projekte, Broschüren und Fortbildungen dazu gibt?
Hier stoßen wir an die grundsätzliche Frage: Welchen Wert misst eine Verwaltung einer verständlichen Sprache zu? Wird der (scheinbare) Widerspruch von Rechtssicherheit und Verständlichkeit bestärkt? Kann ich eigentlich nur verlieren, wenn ich anfange, etwas zu verändern – weil ich riskiere, für rechtliche Lücken bestraft zu werden? Oder kann ich auch etwas gewinnen, weil Nutzerfreundlichkeit belohnt wird?
Aus Sicht von Daniela Hensel braucht es hier „institutionalisierte Wertschätzung“. Führungskräfte, die ein deutliches Signal senden: „Ich wünsche mir, dass wir verständlich kommunizieren.“ Multiplikator:innen, Ansprechpersonen, Botschafter:innen, die informieren und unterstützen. Oder ein Wertschätzungssystem, das Beispiele für verständliche Sprache hervorhebt und auszeichnet. Am besten gleich ein Qualitätssiegel „Verständliche Behörde“. 😊
Und es braucht auch Vorbilder, die Mut machen. Hier verweist Daniela Hensel auf den mittlerweile emeritierten Prof. Dr. Hermann Hill von der Verwaltungshochschule Speyer, der immer wieder auf die Gestaltungsräume von Verwaltung im rechtlichen Kontext hinweist. Und sie fügt lachend hinzu: „Von solchen Jura-Rebellen, die Mut machen, bräuchte es noch mehr“.
Denn es geht hier auch um einen kulturellen Kern, der sich verändern muss. Eine bestimmte Art zu schreiben und sich juristisch auszudrücken, die schon über die Ausbildung trainiert und in der Verwaltung weiter sozialisiert und kultiviert wird. Und, so Daniela Hensel: „Wir dürfen bei allem nicht vergessen: Sprache ist Macht“.
Ein Trimm-dich-Pfad für verständlichere Formulare
Um Verwaltungsmitarbeiter:innen für eine verständliche Behördensprache zu sensibilisieren und zu begeistern, haben Daniela Hensel mit ihrem Team von why does robin und Johanna Götz ein kurzweiliges Workshopkonzept entwickelt. Bei dem „Trimm-dich-Pfad für verständliche Formulare“ durchlaufen die Teilnehmer:innen einen Parcours rund um das Schreiben und Gestalten verständlicher Formulare. Das Ganze dauert eine Stunde, findet online statt und unter Einsatz eines digitalen Whiteboards.
An 10 Stationen bekommen die Teilnehmer:innen Impulse zum Thema (blaue Input-Stationen) und können diese auch gleich praktisch ausprobieren (rote Aktiv-Stationen). Es geht hier um Veränderungen, die Verwaltungsmitarbeiter:innen auch ohne die Unterstützung von Service Designer:innen leisten können.
Daniela Hensel: „Die Idee ist, den Leuten ein locker-leichtes Format anzubieten, das sich gut in den Alltag integrieren lässt. Es braucht nicht viel Zeit. Es macht Spaß. Teams können den Parcours gemeinsam durchlaufen. So können Verwaltungsmitarbeiter:innen sich dem Thema annähern, ohne dass man gleich ein großes Fass aufmacht.“
Wer den Parcours einmal ausprobieren möchte kann sich gern per Mail an Daniela Hensel wenden.
Es braucht nicht viel, um zu begeistern!
Die Beispiele in diesem Beitrag zeigen: Es braucht nicht viel, um zu begeistern. Wir wissen aus eigener Erfahrung: Wenn eine Behörde Sprache etwas anders gestaltet, – wenn sie mich in Briefen und Formularen direkt anspricht, wenn ich verstehe, worum es geht und mich umgekehrt verstanden fühle – dann bin ich als Bürger:in positiv überrascht. Weil sich das spürbar absetzt von der Ansprache, die ich sonst gewohnt bin. Das macht Eindruck und es trägt auch dazu bei, sich auch als Menschen zu begegnen – und nicht nur als Antragsteller:in und Sachbearbeiter:in.
Abschließend geben wir sehr gern eine Frage von Daniela Hensel weiter: „Wie viele Fälle gibt es eigentlich, in denen ein neues, verständlicher gestaltetes Schreiben zu Rechtsproblemen geführt hat? Oder ist das wirklich nur ein Geist, der durch die Amtsstuben schwebt?“. Liebe Leser:innen, wenn ihr Beispiele kennt, freuen wir uns über sachdienliche Hinweise in den Kommentaren!
Ein Tipp zum weiteren Stöbern: Schaut euch den folgenden Mitschnitt vom Creative Bureaucracy Festival 2021 an: „M. d. B. um. Ktn. – Warum eine Reform der Amtssprache so wichtig ist“ an. Hier moderiert Daniela Hensel einen spannenden Austausch mit Johnny Haeusler (Gründer und Geschäftsführer der re:publica), Wiebke Lang (Stabstelle Strategie und Kommunikation bei der Behörde Hessen Mobil) und Dr. Christine Möhrs (wiss. Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache). Dabei lassen sie Videos, Beispiele und Interviews einfließen – sehr kurzweilige und gut investierte 50 Minuten!
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Hier noch die Auflösung zu den Behördenbegriffen oben:
- Hinter einer „Lebensberechtigungsbescheinigung“ verbirgt sich das klassische Familienstammbuch.
- Mit „Gelegenheitsverkehr“ bezeichnet das Personenbeförderungsgesetz den Taxi- und Mietwagenverkehr).
[1] SG Karlsruhe Entscheidung vom 17.12.2021, S 12 R 1017/21, http://lrbw.juris.de/cgi-bin/laender_rechtsprechung/document.py?Gericht=bw&nr=36497
Guten Morgen, super Artikel, vielen Dank. “Einfache Behördensprache” – ein Thema, das mir seit Jahren am Herzen liegt, leider fehlen hier – wie so oft – die interen Mitstreiter. Die Ruhr-Universität Bochum hat vor vielen Jahren ebenfalls einen umfangreichen Leitfaden (https://ogy.de/9nhi) und ein Folgeprojekt gestartet. Habe ich seinerzeit schon mit großem Interesse (leider nur) verfolgt. E-Mail zum “Trimm-dich-Pfad” geht gleich raus.
Ich finde es spannend, dass wir immer noch darüber sprechen. Das “Hamburger Verständlichkeitskonzept” wurde bereits Anfang der 1970er Jahre von Tausch, Langer und Schulz von Thun entwickelt und enthält ganz ähnliche Empfehlungen. Ich habe zwischen 1994 und 2012 als Verkaufstrainerin in einer Bank immer wieder mit meinen Kolleg:innen über Kundenanschreiben diskutiert und auch Kommentare wie “Das muss ja aber offiziell klingen.”
Danke für den Artikel, ich freue mich auf das nächste Behördenschreiben 🙂